Miriam Markstein
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Das Trauma der Eltern und die zweite/dritte Generation.
Familienschemata und Identitätsproblematik bei Kindern von Holocaust-Überlebenden am Beispiel Österreich - Chile.
Wien 1998 Diplomarbeit Psychologie
1. INHALTLICHE ZIELE
Die Generation nach dem Holocaust - ein Thema, das vorallem in den USA Gegenstand zahlreicher Untersuchungen war bzw. ist. Mich interessierten hierbei jedoch weniger die psychopathologischen Aspekte, sondern vielmehr die Darstellung des Menschen an sich. Ich stellte mir die Frage inwieweit beeinflußte die Leidensgeschichte der Eltern die Lebensgeschichte ihrer Kinder. Selbst ein Emigrantenkind weiß ich: wir die Generation nach dem Holocaust kann das Thema einfach nicht von sich abschieben, denn es gibt immer einen Moment, der uns daran erinnert. Wir sind Teil einer Familiengeschichte, die geprägt ist von Trennung, Tod, unendlichen Schmerz und zerbrochener Familie. Nicht nur Kinder von Überlebenden des Konzentrationslager sollten Gegenstand dieser Untersuchung sein, sondern eben auch die Emigrantenkinder. Vieles mag für diese leichter sein, der Tod prägt zumeist nicht ihr Familienbild, die Erinnerungen der Eltern sind weniger schauerlich, und dennoch auch sie müssen mit der Last des Holocausts leben. Letztendlich, ob zweite/dritte Generation - [Der Begriff "die zweite Generation" oder noch mehr bekannt als "Second Generation" ist von der Tatsache abzuleiten, daß viele Überlebende als einzige der Familie das Ende des Holocausts erlebten, und daher als erste Generation, d.h. als Fundament einer neuen Familiengeneration, galten. Dies gilt zumeist nicht für Emigrantenkinder, daher sind sie gemäß der Generationsfolge als dritte Generation zu bezeichnen.] - , sie leben mit der Vergangenheit in der Gegenwart und gleichzeitig sind sie das Symbol für ein neues, besseres Leben.

2. FORSCHUNGSDESIGN
Meinem Forschungsinteresse entsprechend wählte ich das qualitative Verfahren des biographischen Interviews, das mir aus zweierlei Gründen für meine Untersuchung richtig erschien.
1) Die Möglichkeit der Rekonstruktion der Lebensgeschichte aus der Sicht des/der Befragten - seine/ihren Erfahrungen und Erlebnissen in all seine Relevanzen und Bedeutungsmuster wie sie "konstitutiv für seine [des Biographen] Identität ist und somit auch handlungsrelevant für ihn ist (Bohnsack 1993, S. 93).
2) Die Tragweite des Themas verlangte nach einer, in der Ausführung, weitreichenden, Auslegung. Am Anfang des Biographischen Interviews steht die Frage nach der eigenen Lebensgeschichte, und somit wird seitens des Forschers/der Forscherin weder ein Thema vorgegeben noch die thematische Richtung bestimmt
Die Untersuchungsgruppe bestand aus Frauen in Österreich/Chile im Alter von 30-45, deren Eltern entweder das Konzentrationslager überlebten oder ins Exil gehen mußten. Im Vergleich Chile- Österreich interessierte mich einerseits Unterschiede in Abhängigkeit vom sozialen Umfeld. Andererseits, glaubte ich, basierend auf eigener Erfahrung, daß der Konflikt, sich auf einer Seite integrieren zu wollen, sich aber auf der anderen Seite mit der Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen, in Österreich, auf Grund der aktiven Beteiligung eines Teils der Bevölkerung am Geschehen, den Lebensverlauf der in Österreich lebenden zweiten/dritten Generation stark beeinflußt.
Die insgesamt 21 Interviews (neun in Österreich, 11 in Chile) wurden entweder in deutsch oder spanisch geführt. Bevor es zum eigentlichen Interview kam, legte ich den Interviewpartnerinnen einen Fragebogen vor:
- zur Erfassung biographischer Daten der Interviewpartnerinnen und deren
Eltern
- zur Beantwortung der Frage nach der Verfolgungsgeschichte der Eltern;
- zur Beantwortung einer Frage zwecks Feststellung einer Tendenz zur gelernten Hilflosigkeit, jedoch hat es diesbezüglich keine nennenswerten Ergebnisse gegeben.
Eingeleitet wird das Biographische Interview mit einer Erzählaufforderung - der Frage nach der Lebensgeschichte. Irgendwann kommt der Punkt, an dem der Eingangserzählung vom Befragten ein deutliches Ende gesetzt wird. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, daß zumeist die Eingangserzählung sehr kurz gehalten wird und die Befragten von mir konkrete Fragen erwarten haben. Um die Erzählung nicht in eine bestimmte thematische Richtung zu lenken, führte ich das Gespräch mit allgemein gehaltenen Fragen weiter.
Im letzten Teil wurden dann von mir einerseits Fragen bezüglich Unklarheiten, die während der Erzählphase aufgetreten sind, geklärt, andererseits wurden von mir Fragen gestellt, die mir hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes relevant erschienen, sofern sie im Interview nicht schon geklärt worden sind.
In die Auswertung gingen 8 Interviews ein. Die Textinterpretation erfolgte nach Bohnsack
- Die formulierende Interpretation: Überblick - thematischer Verlauf; Auswahl der Passagen (thematisch relevant) für die reflektierende Interpretation; Formulierende Interpretation dieser Passagen
- Die Reflektierende Interpretation: Rekonstruktion und Darstellung des Rahmens innerhalb dessen ein Thema abgehandelt wird. Fallinterner Vergleich (komparative Analyse) - unterschiedliche Äußerungen auf unterschiedliche Ebene vergleichen. Herausarbeitung einer Orientierungsfigur als immer wiederkehrendes Muster.
- Das biographisches Porträt/Falldarstellung: Zusammenfassung der Gesamtgestalt des Falles- vermittelnde Darstellung im Zuge der Veröffentlichung.
- Die Typenbildung: fallübergreifenden Vergleich - Voraussetzung: Herausarbeitung unterschiedlicher Erfahrungsräume eines Falles.

3. ERGEBNISSE; INTERPRETATION
Das Familiengeschehen zeigt sich als eine immer wiederkehrende Dimension in den Lebensgeschichten und daraus ergibt sich die Betrachtung verschiedener Typen:
Starke Familie - enger Familienzusammenhalt (geht über die Herkunftsfamilie hinaus)
Dominierte-opferorientierte Familie - das Familiengeschehen, wird vom betroffenen Elternteil dominiert.
Desozialisierte Familie - es findet kein familiäre Sozialisationsprozeß statt
Die Selbstdefinition stellte sich als zweite, in den Erzählungen auftretende, Dimension heraus. Folgende Typen ergaben sich:
Die fundierte jüdische Selbstdefinition - das jüdische Selbstbewußtsein ist ein starker, selbstverständlicher Teil der Identität.
Die generationsübergreifende jüdische Identität - Vom Elternhaus keine Übernahme jüdisch religiöser oder traditioneller Werte. Eine jüdische Selbstentwicklung gelingt nur mit Hilfe anderer.
Die desorientierte jüdische Selbstdefintion - der Weg zu einer jüdischen Selbstverwirklichung ist unsicher und gekennzeichnet durch viele offenbleibende Fragen.
Weiters zeigt es sich, daß die Lebensgeschichten der Interviewten anhand von traumatischen Erlebnissen strukturiert werden können.
Abschließend sei noch erwähnt, daß in den Erzählungen der österreichischen Interviewpartnerinnen die Angst vor einer neuerlichen Bedrohung durch den wachsenden Fremdenhaß und Rassismus thematisiert wird, wobei diese mit der Angst vor einem immanenten Antisemitismus einhergehen.



Literaturhinweise:

Bergmann M. S. & Jucovy M. E., (Eds.). (1982). Generations of the Holocaust. New York: Columbia University Press
Bohnsack, R. (1993). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung (2.erw.Aufl.). Opladen: Leske + Budrich.
Bohnsack, R., Loos, P., Schäffer, B., Städtler, K. & Wild, B. (1995). Die Suche nach Gemeinsamkeit und die Gewalt der Gruppe. Hooligans, Musikgruppen und andere Jugendcliquen. Opladen: Leske + Budrich
Keilson, H. (1979). Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Deskriptiv-klinische und quantifizierende-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag
Lamnek, S. (1995a). Qualitative Sozialforschung. Methodologie Bd.1, (3. korriegierte Aufl.). Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union
Lamnek, S. (1995b). Qualitative Sozialforschung. Methoden und Techniken Bd.2, (3. korrigierte Aufl.). Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union
Rosenthal, G. (1995). Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt, New York: Campus Verlag.
Schütze, F.(1983). Biographieforschung und narratives Interview. in: Neue Praxis, 3, 283-293.