Aufsatz der Gewinnerin Elisabeth Koch, 18 Jahre aus Klosterneuburg, Niederösterreich
Was Anne Frank heute schreiben würde...

Kann ein Zug der Hölle gleichkommen? Diese Frage stelle ich mir immer wieder, Tag für Tag, wenn ich mit dem 6-Uhr-Zug zur Arbeit fahre.
Seitdem ich von Bosnien hierher geflüchtet bin, arbeite ich als Akkordarbeiterin in einer Konservenfabrik außerhalb der Stadt; eine knappe halbe Stunde von meiner 20m²-Wohnung entfernt. Es ist kein großartiger Job, aber irgendwie muß ich mich über Wasser halten; dieses Land ist ein teures Pflaster.

Als ich noch in Bosnien gelebt habe - vor dem Krieg - hatte ich einen guten Beruf, hatte ein gutes Leben.

Der Zug setzt sich in Bewegung. 25 Minuten muß ich hier nun schmachten. Ich hasse es, unter den Menschen in diesem Zug zu sitzen, ich komme mir immer vor, als ob ich nicht dazugehören würde. Ja, wahrlich, ich gehöre nicht dazu.Dieses Gefühl war nicht immer da, früher war ich gerne unter Leuten, unter meinen Freunden - früher, bevor der grauenhafte Krieg mir alle diese Freunde weggenommen hat.
Es war eine wunderbare Zeit, ich besaß ein Haus, hatte Familie und einen Ehemann. Ich hatte alles, doch jetzt besitze ich nichts mehr außer meinem geringen Eigentum, das ich auf der Flucht hierher mit mir genommen habe.

Was von mir und meiner Welt übriggeblieben ist, ist eine verängstigte Frau mit zermürbtem Gesicht, faltigen Händen und einer nicht zu verbergenden Herkunft.

Während dieser täglichen Zugfahrt versuche ich immer, mich so normal und so unauffällig wie nur irgendwie möglich zu verhalten, um kein Aufsehen zu erregen. Meist richte ich meinen Blick aus dem Fenster und lasse die Landschaft an mir vorüberziehen.

Kurz schaffe ich es zwar immer wieder, das Gerede der fremden Menschen um mich herum nicht zu berücksichtigen und alles zu vergessen. Solange Dörfer, Häuser und die Menschen, die darin leben, so schnell und unnahbar an mir vorüberrauschen, fühle ich mich sicher.

Doch man erlaubt mir nicht, lange in dieser "heilen Welt" zu verweilen.

Auch heute werde ich wieder in meine Umgebung zurückgeholt, als zwei Burschen an meinem Sitzplatz vorbeigehen. Aus den Augenwinkeln bemerke ich, daß sie mich abwertend ansehen und höre den einen flüstern: "Solche Tschuschen g’hörn endlich raus aus unserem Staat". Mir aber werfen sie noch einen weiteren verächtlichen Blick zu und der andere meint nur spöttisch: "Und so was kann sich eine Fahrkarte leisten", worauf der Freund zynisch sagt: "Hat sie wahrscheinlich eh gestohlen - sind ja alle gleich"

Ich sehe weiterhin starr aus dem Fenster. Wieder dieses furchtbare, unbekämpfbare Gefühl, nicht dazu zu gehören. Zwar haben mich solche Aussagen schon lange abgestumpft, doch habe ich noch immer nicht gelernt, sie vollkommen zu verkraften. Zu sehr schmerzt es mich, zu wissen, daß ein sogenannter Ausländer immer etwas Verachtenswertes an sich hat. Ich kämpfe mit den Tränen. Wie sehr Worte doch verletzen können. Es ist fast noch schlimmer, als durch Kriegswaffen Wunden zugefügt zu bekommen - es ist eine andere Art von Grausamkeit.

Der Zug bleibt nun stehen, an dieser Station steigen viele Personen zu. Ein Platz neben mir ist noch frei, doch sie alle gehen weiter; suchen andere, "bessere" Sitzplätze.

Ein altes Ehepaar läßt sich auf den Plätzen auf der anderen Seite des Abteiles nieder. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung.

Die beiden Alten blicken gleichzeitig auf mich - ich fühle mich so beobachtet und richte meinen Blick wieder zum Fenster; doch ich kann den feinden wohl nicht entkommen.

Schon höre ich den alten Mann sagen: "Diese Ausländer, das ist ja wirklich nicht mehr zum aushalten", worauf seine Frau zustimmend antwortet: "Ja, hast Recht. Unterm Hitler hat’s halt sowas nicht gegeben."

Meine Hände werden feucht, in mir drinnen habe ich ein Gefühl, als ob eine Granate hochgehen würde. So bedroht, so aussichtslos.

Ein Mädchen, das eine Reihe weiter sitzt, wirft mir einen mitleidigen Blick zu. Ich versuche, auch sie zu ignorieren. Ich habe schon so lange aufgehört, daran zu glauben, daß noch irgendjemand an mich glaubt.

Ich gebe mir weiterhin richtiggehende Mühe, die Leute um mich herum zu vergessen, aber ers will mir nicht so recht gelingen.

Während draußen alles im Eilzugstempo an mir vorüberzieht, stelle ich mir immer wieder die gleiche Frage: "Wie können Menschen bloß so ungerecht sein?"

"Ich hätte zu Hause in Bosnien bleiben sollen". Wird mir oft von den Leuten vorgeworfen. Um Gottes Willen, nichts wäre mir näher gelegen. Aber ich habe kein Zuhause mehr. Ich habe keine Familie mehr, mein ganzes Leben ist durch diesem verdammten Krieg zerstört worden.

Ich bin monatelang unterwegs gewesen, ständig in der Angst, entdeckt und verraten zu werden; ständig auf der Flucht.

Es schien ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, dem Tod zu entkommen und ich habe es trotzdem geschafft. Und nun bin ich hier und wünsche mir doch manchmal, ich hätte es nicht überlebt.

Ich höre sie schon wieder böse reden - das alte Ehepaar und zwei weitere Frauen, die nicht weit von mir entfernt sitzen - und die, die nicht reden, verurteilen mich mit bösen Blicken.

So, als ob ich eine Aussätzige wäre oder etwas noch Schlimmeres: eine Ausländerin.

Gott-sei-Dank; ich bin fast am Ziel, der Zug hat die Station, an der ich aussteigen muß, schon fast erreicht. Ich muß hier raus, weg von all diesem verurteilenden Blicken und Gesten!

Der Zug hält an und ich verlasse ihn so hastig und verstört wie ich ihn jeden Tag verlasse.

Natürlich, ich bin hier in einem Land, in dem angeblich die Sitten nicht mehr dem Mittelalter entsprechen. Dieses Land führt keinen Krieg, die Menschen werden nicht zu Tausenden abgeschlachtet oder vergewaltigt und keiner braucht hier vor dem Tod flüchten.

Ich aber bin hier und werde wohl trotzdem weiterhin auf der Flucht sein - auf der ständigen Flucht vor Gespött, vor haßerfüllten Beschimpfungen und vor abweisenden Blicken.

Ich bin vielleicht dem Krieg entkommen, nicht aber den Menschen.

Die Hölle sind die anderen. Wie recht Sartre damit doch hatte.

 

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